Bewertung : ✭✭✭✫✫
Wen ein Mensch stirbt, erfahren die Angehörigen manchmal Dinge aus seiner Vergangenheit, die dieser sorgsam gehütet hat. So geht es auch Jule, nach dem Tod ihrer Mutter Marie. Als sie und ihr Bruder Thomas die Wohnung durchsehen nach Maries Tod, entdeckt sie alte Fotos. Erinnerungen an einen Urlaub in Italien, die Marie mit den beiden Kindern ohne den Vater verbracht hatte. Dort entstanden damals auch die "blauen Bilder" von Marie, die als Malerin gearbeitet hat. Jule reist in das kleine Dorf in Italien und Erinnerungen kommen hoch an eine andere Marie, die damals ein Geheimnis hütete.
Der Prolog zeigt die Gedanken einer Malerin und ist sehr poetisch, ja fast lyrisch. Er erklärt auch den Bezug zu dem Titel des Buches. Etwas was ich sehr mag, wenn eine Verbindung zwischen Handlung und Titel besteht. Dies ist ja beileibe nicht in allen Büchern so.
Dann fast wie ein Klimaschock: Vom sonnigen Mittelmeer im Prolog landet man im Kapitel eins und im nasskalten und verschneiten München. Toll geschrieben!
Jule muss sich auseinandersetzen mit dem Tod der Mutter. Obwohl sie es als Psychologin besser wissen müsste, nimmt sie sich keinerlei Zeit für die Trauerarbeit, sondern verdrängt erst mal ihre Trauer. So arbeitet sie sofort weiter, ohne sich eine Auszeit zu nehmen. Immer wieder denkt sie jedoch zurück an die glückliche Vergangenheit der Familie und zeichnet ein Bild von Marie, das liebevoller nicht sein könnte. Diese Gedanken haben mich sehr berührt.
Ein Zusammentreffen Jules mit einem Mann bedient auch die romantische Schiene und man denkt : hier ist alles in trockenen Tüchern. Zwar gibt es ab und zu noch ein hin und her, doch eigentlich nie so ernsthaft, dass man als Leser um diese Liebe bangen müsste. Diese Seite der Story war mir zu sicher und zu wenig spannend. Der Exfreund Jules wird eher halbherzig erwähnt, man spürt als Leser, dass er keinerlei Konkurrenz für den neuen Mann ist
Danach wird es gegen Mitte Buch langatmig. Ganz Psychologin denkt und analysiert sich Jule durch etliche lange Passagen. Die Handlung plätschert und die Situation der Familie in der Vergangenheit, sowie die Charaktereigenschaften der Familienmitglieder werden ausschweifend thematisiert. Klar ist es schwer, wenn man im Nachhinein erkennt, dass das Familienleben auf einer Lüge aufgebaut war….aber mir war das einfach zu aufgebauscht und nervend.
Jule ist eine Figur, die ich nicht recht fassen konnte. Einerseits analysiert sie ihre Situation sehr gut, andererseits benimmt sie sich wie ein störrisches Kind. Was sich in einem Gespräch mit ihrer Chefin sehr gut zeigt. Ihre Reaktionen konnte ich nicht immer nachvollziehen. So rät sie zum Beispiel einer Freundin, die einen Seitensprung begangen hat, zum Verschweigen von diesem. Als Psychologin sollte sie eigentlich wissen, wie sich solche Lügen auf Dauer auf eine Beziehung auswirken können.
Ein Highlight sind die einzelnen Kapitel aus der Sicht von Marie. Hier spürt man sehr gut, wie sie gelebt und gefühlt hat.
Die Geschichte empfand ich als sehr konstruiert. Nicht nur, dass ein passender Mann im richtigen Augenblick zur Stelle ist, sondern auch ein, zwei Ereignisse, die Jule in Italien erlebt.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Einwohner eines kleinen Dorfes sich noch nach 20 Jahren an eine Familie erinnern, die nur 2 Wochen dort Urlaub verbracht haben. Auch ein Gedankenblitz von Jule, die sich nach 20 Jahren genau erinnert, ihre Mutter einmal im Urlaub auf einem fremden Balkon gesehen zu haben, ist mehr als fraglich.
Der Schreibstil gefiel mir, abgesehen von den langatmigen Passagen, eigentlich ganz gut. Der Plot hätte meiner Meinung nach besser ausgearbeitet werden dürfen, damit das Ganze weniger konstruiert wirkt.
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